Gesetz, Propheten, Schriften: Die Bücher des Alten Testaments

Gesetz, Propheten, Schriften: Die Bücher des Alten Testaments
Gesetz, Propheten, Schriften: Die Bücher des Alten Testaments
 
Von seiner jahrhundertelangen Entstehungsgeschichte her und in literarischer Hinsicht ist das Alte Testament eine Vielheit von Büchern. Die Bezeichnung »Bibel« hält dies auch ausdrücklich fest. Das ihr zugrunde liegende mittellateinische Wort »biblia« wurde seit dem (9.?) 12. Jahrhundert als femininer Singular missverstanden, sodass es zur Redeweise »die Bibel« kommen konnte. Ursprünglich ist das griechische »tà bíblia« eine Pluralbildung, mit der schon in dem um 100 v. Chr. entstandenen 1. Makkabäerbuch die damals als »Heilige Schriften« des Judentums geltenden Bücher (1. Makkabäer 12,9) bezeichnet wurden. Als Bibel ist das Alte Testament also eigentlich eine Büchersammlung, eine Bibliothek oder eine Bücherei. Diese »Bücherei« ist als gezielte Auswahl aus der insgesamt viel reicheren jüdischen Literatur entstanden. Gerade die Textfunde von Qumran haben uns diese Tatsache erneut und eindrucksvoll ins Gedächtnis gerufen.
 
Die antike jüdische Tradition hat die Anzahl der in der jüdischen Bibel zusammengefassten Bücher (nach heutiger Zählung 39) mit den Symbolzahlen 22 (so Flavius Josephus) oder 24 (so 4. Esra) angegeben. Beide Zahlen betonen die Idee der Vollständigkeit und der Vollkommenheit: 22 ist die Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets, 24 ist zweimal die Anzahl der zwölf Monate oder der zwölf Stämme Israels.
 
Die Idee einer in ihrem Wortlaut und in ihrem Umfang vollständigen, »ein für alle Mal« abgeschlossenen und künftighin für jüdische Identität verbindlichen Büchersammlung ist spätestens mit der Endredaktion der fünf Bücher des Mose als »Thora« um 400 v. Chr. unter dem persischen Schreiber Esra gegeben. Die für diesen Vorgang beziehungsweise das Ergebnis gebrauchten Begriffe »Kanonisierung« beziehungsweise »Kanon« stammen erst aus christlicher Zeit.
 
Der Prozess der Kanonisierung vollzog sich in drei Etappen. Sie sind im Aufbau der jüdischen Bibel ablesbar, die sich selbst durch entsprechende redaktionelle Querverweise und insbesondere vom Inhalt her in die drei Teile »Thora« (= Gesetz), »Nebiim« (= Propheten) und »Ketubim« (= Schriften) gliedern lässt. Die »Bücherei« der jüdischen Bibel ist somit eine planvoll gegliederte Anlage und stellt insofern eine »Einheit« dar.
 
Der erste Teil, der auch am frühesten kanonisiert wurde, ist das Fundament und für die Auslegung der inhaltliche Bezugspunkt des Ganzen. Dieser Teil erscheint beim oberflächlichen Lesen als ein außerordentlich komplexes und bisweilen verwirrendes Gebilde, was mit der mehrhundertjährigen Entstehungsgeschichte der Thora zusammenhängt. Andererseits ist die Thora nicht einfach das zufällige Ergebnis eines Sammlungsvorgangs, sondern lässt in ihrer Endgestalt eine Komposition erkennen, die theologisch begründet ist. Während das Judentum mit den Bezeichnungen »die Thora« beziehungsweise »Buch der Thora des Mose« sowohl die Ganzheit als auch den Inhalt betont, rückt die aus dem Griechischen kommende Bezeichnung »Pentateuch« (das fünfteilige Buch) stärker die formale Gliederung in fünf Teile (die fünf Bücher Mose) in den Blick. Die jüdische Tradition benennt die fünf Bücher nach ihren hebräischen Anfangswörtern (»im Anfang«, »Namen«, »er rief«, »in der Wüste«, »Worte«); im Christentum haben sich die in der griechischen und lateinischen Bibelübersetzung verwendeten Überschriften, die den jeweiligen Inhalt angeben, durchgesetzt (neben den Bezeichnungen 1. bis 5. Buch Mose). Jedes dieser fünf Bücher, deren Anfang und Abschluss jeweils literarisch deutlich markiert sind, hat sein eigenes Geschehen und theologisches Profil.
 
»Genesis« (griechisch = Ursprung) - das 1. Buch Mose - erzählt die Ursprünge Israels in zweifacher Weise: 1-9 erzählt als Urgeschichte die Schöpfung der Welt in zwei Akten: Schöpfung und Sintflut; der nach der Sintflut vom Schöpfergott mit Noah und damit mit »allem Lebendigen« geschlossene Bund schließt zugleich die noachidischen Gebote als grundlegende Thora (Gesetz) für alle Völker ein. 10-50 entfaltet in den drei Erzählbögen 10,1-25,11 und 25,12-36 sowie 37-50 die drei Generationen umfassende Familiengeschichte der Erzeltern Israels: Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob mit Lea und Rahel im Land der Verheißung. Die zwölf Söhne Jakobs werden im weiteren Verlauf der Erzählung zu den Gründungsvätern der zwölf Stämme Israels. Der Erzählbogen endet mit dem Tod Jakobs und seines Sohnes Joseph nicht mehr im Land der Verheißung, sondern in Ägypten.
 
»Exodus« (griechisch = Auszug) - das 2. Buch Mose - erzählt den Anfang der Volksgeschichte Israels als Herausführung (Befreiung) der zu einem großen Volk gewordenen Nachkommen der zwölf Söhne des Jakob aus der Knechtschaft in Ägypten. Die Erzählung behandelt zunächst (1,1-15,21) die Unterdrückung Israels durch den Pharao und die Verheißung der Rettung an und durch Mose (1-6), das Ringen Jahwes mit dem Pharao um die Freilassung Israels (2. Mose 7-11: die Geschichte von den ägyptischen Plagen) und schließlich die wunderbare Rettung Israels am Meer (12-15). Dann folgt Israels Weg durch die Wüste (15,22-18) hin zum Berg Sinai, wo Jahwe sich offenbart, die Zehn Gebote verkündet und mit Israel - durch Vermittlung von Mose - den (Sinai-)Bund schließt (19-24,11). In der Erzählung 24,12-40,38 erhält Mose auf dem Berg Sinai von Jahwe zunächst den Auftrag, für Israel ein Zeltheiligtum (»Stiftshütte«) zu errichten und Priester zum Dienst an Jahwe einzusetzen (24,12-31,18). Währenddessen weilt das Volk unten am Berg unter Führung des Aaron und übertritt durch die Verehrung des Goldenen Kalbs den Bund. Deshalb erneuert Jahwe schließlich (unter Einsatz des Mose) den Bund und verkündet seine Vergebungsbereitschaft (Erneuerung des Bundes; 2. Mose 32-34). Nun erst folgt die Ausführung des dem Mose auf dem Berg gegebenen Auftrags (35-40): Als das Heiligtum errichtet ist, zieht die über dem Berg Sinai als Zeichen der Gegenwart Jahwes ruhende Wolke hinunter über das Zeltheiligtum (Offenbarungszelt), das nun zum »mitgehenden« Sinai werden kann.
 
»Leviticus« (griechisch = das levitische, priesterliche Gesetzbuch) - das 3. Buch Mose - entwirft die von Jahwe »mitten aus dem Offenbarungszelt« (1,1) verkündete levitische, das heißt priesterliche Grundordnung Israels als »heiliges Volk« gemäß der programmatisch am Anfang der Sinaierzählung von Jahwe formulierten Berufung des im Exodus geschaffenen Israel: »Zwar gehört mir die ganze Erde, doch sollt ihr mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein« (2. Mose 19,5f). Die Systematik dieser Verfassung Israels durchschreitet in konzentrischen Kreisen die Lebensbereiche in einem spannungsreichen Ineinander von kultischen und ethischen Regelungen: 1-7 Opfervorschriften, 8-10 priesterlicher Dienst, erzählt wird dabei auch von der Einsetzung der Priester durch Mose; 11-15 Reinheitsvorschriften für den Alltag; 16-17 Heiligung des ganzen Volkes durch »Entsündigungsliturgie« (Versöhnungsfest Jom Kippur sowie Blutriten); 18-20 Ethos für den Alltag, wobei in Kapitel 19 das Gebot der Feindes- und Fremdenliebe genannt ist; 21-22 priesterlicher Dienst, 23-25 Opfer und Feste; 26 Abschluss der Sinaioffenbarung (Segen-Fluch, bleibende Bundesverheißung), 27 ist ein (später) Nachtrag beziehungsweise Anhang zur »priesterlichen« Verfassung Israels.
 
»Numeri« (lateinisch = Zahlen, Zählungen) - das 4. Buch Mose - erzählt von Israels Aufbruch vom Sinai, wieder durch die Wüste, bis an die Grenze des Verheißenen Landes. Es umfasst drei Teile: In 1,1-10,10 formiert sich Israel als »heilige« Lagergemeinschaft für den Aufbruch; zunächst findet eine Zählung der wehrfähigen Israeliten statt (daher der Name des Buches); 10,11-20,13 erzählt den konfliktreichen Weg durch die Wüste, unter Führung durch »die Wolke«; ab 20,14 zieht Israel wieder durch bewohntes Land und kommt zunächst in den Gefilden von Moab zur Ruhe; 20,14-25 handelt von der Auseinandersetzung mit feindlichen Königen, 26-31 von der Neuordnung des Lagers; 32-36 berichtet von der Landzuweisung an einige Stämme im Ostjordangebiet.
 
»Deuteronomium« (griechisch = das zweite Gesetz) - das 5. Buch Mose - spielt szenisch in den Gefilden von Moab und erzählt die Ereignisse am Todestag des Mose, 40 Jahre (!) nach dem Auszug aus Ägypten (1,3; 32,48); vor seinem Tod verkündet Mose noch einmal das Gesetz vom Sinai; daher trägt das Buch seinen Namen. Es schließt mit dem Tod des Mose und mit dessen Preisung 34,10-12 als Schlussschrift unter den gesamten Pentateuch.
 
Der zweite Teil der jüdischen Bibel sind die »Nebiim« (= Propheten). In ihm sind zum einen die Bücher zusammengestellt, die nach der Tradition auf die seit dem 8. Jahrhundert in Israel auftretenden »Schriftpropheten« zurückgeführt werden. Im Unterschied zu den in Israel wie in seiner Umwelt bezeugten Vertretern der institutionalisierten Tempel- und Hofprophetie waren dies oppositionelle Einzelpropheten. In historischer Hinsicht waren sie Sozial- und Kultkritiker im Namen des biblischen Gottes der Gerechtigkeit und der Solidarität, im kanonischen Zusammenhang der Bibel und von der Endgestalt der nach ihnen benannten Bücher her sind sie nun als Interpreten der Thora zu verstehen.
 
Über das Auswahlkriterium der im dritten Teil der jüdischen Bibel, in den »Ketubim« (= Schriften) versammelten Bücher lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. In literarischer Hinsicht ist dieser Teil eine Anthologie unterschiedlicher literarischer Gattungen, die zur Zeit ihrer Zusammenstellung wahrscheinlich als zwölf Bücher verstanden wurden. Möglicherweise sollten vier grundlegende Gattungen jeweils durch drei Schriften repräsentiert sein: die Geschichtsschreibung durch die Bücher Chronik, Esra, Nehemia, die Poesie durch Psalmen, Klagelieder, Hohes Lied, die novellistische oder biographische Erzählung durch Ruth, Esther, Daniel, und die Weisheitsliteratur durch das Buch der Sprüche (Proverbien), Hiob und Kohelet.
 
Prof. Dr. Erich Zenger

Universal-Lexikon. 2012.

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